Radfahren am Berg bedeutet Arbeit auf jedem Meter. Da ist Köpfchen gefragt: Neben guter Fahrtechnik und Fitness braucht es eine konstruktive mentale Haltung. So fährst du jeden Berg hoch – auch
den berühmt-berüchtigten Mont Ventoux.
Mekka der Radsportfans im Süden Frankreichs: der Mont Ventoux.
jok. Den Mont Ventoux kann
man von Nordwesten (Malaucène), von Südosten (Sault) oder aus Südwesten
(Bedoin) anfahren. Kenner halten die Route von Bedoin, die der Tour-Profis, für
die Schwierigste, aber auch für die Schönste. Schwierig, weil uns der untere Teil
von Bedoin durch den Wald bis zum Chalet Reynard über die tatsächlichen
Wetterverhältnisse am Ventoux im Unklaren lässt. Erst nach dem Chalet zeigt der
Berg sein wahres Gesicht. Jetzt hat man noch gut ein Drittel und rund 500
Höhenmeter vor sich. Steht der Wind ungünstig, kommt er nun unbarmherzig von
links oder vorne. Deshalb sollte man die Kräfte einteilen. Bläst der Wind ruppig, bleiben
dann genug Reserven bis zum Observatoire. Ist der Berg dagegen an diesem Tag gnädig und
schiebt der Wind sogar von Süden, kann man den Turbo raus holen und mit
flüssiger Frequenz hinauf fahren.
Entspannt sitzen
Flüssig hinauffahren,
wie geht das? Nun, Bergfahren verlangt nach besonderer Technik und mentaler
Verfassung. Bergfahren heisst ökonomisch fahren. Das sollte man zwar immer.
Aber am Berg gibt es kein Ausruhen, jeder zurückgelegte Meter bedeutet Arbeit.
Ob sie eher locker oder schwer wird, liegt zunächst an der Sitzposition. Sitze so entspannt wie möglich. Fasse den Lenker an der Biegung hinter den Bremsgriffen. Wenn’s
steiler wird, am horizontalen Rohr. Ziehe ihn zu dir heran, aber
nur so stark, dass du immer noch entspannt sitzt, meist ein Stück vor oder
hinter der normalen Sattelposition. Halte den Oberkörper ruhig, schiebe das Becken nach vorne und fahre möglichst nur aus den Beinen. Jedes Wippen der Schultern, „Eiern“ des
Oberkörpers oder gar kleine Kurven übertragen sich aufs Rad und erhöhen den
Rollwiderstand der Reifen. Ans Ziehen der Pedale denken, aber weich, so bleibt man im runden Tritt.
Nur im Ernstfall aufstehen
Erst wenns richtig
steil wird, kann man mal aufstehen und im Wiegetritt fahren. Der Spanier
Federico Bahamontes, genannt „Adler von Toledo“, wechselte bei langen
Bergfahrten regelmässig vom Wiegetritt in den Sattel und zurück – alle zwölf
Umdrehungen. Ein überholter Stil, der viel Kraft kostet. Wer nicht zuviel davon
hat, wird den Wiegetritt (weich, nicht ausladend!) nur zur Überwindung der steilsten Stücke oder zum
Dehnen der Muskulatur einsetzen. Oft helfen ein paar Umdrehungen im Stehen auch, um wieder höher zu drehen und den Rhythmus zu finden. (Nebenbei: Bahamontes war zwar König der
Kletterer, als Abfahrer aber eher eine Null. Er führte dies auf ein Kindheitstrauma
zurück, als er bei einer Abfahrt in einen Kaktus flog.)
Vorsicht in der Gruppe
Für uns gilt also: schön
sitzen bleiben! Und fahre nicht zu nahe auf den Vordermann auf: Das kann
gefährlich werden! Wenn der nämlich plötzlich aufsteht, wird er für einen
Moment langsamer. Sein Hinterrad „fällt“ zurück und kann dich zu Fall bringen. Lance Armstrong ist zwar als Sportler und Mensch kein Vorbild, aber radfahren kann er. Er wurde erst ein guter Bergfahrer, nachdem ihm sein
Trainer beim Training in Südfrankreich das Aufstehen austrieb. Per Funk
rief er dem Amerikaner, wenn dieser aus dem Sattel gehen wollte, jedes Mal zu:
„What’s that?“, und Lance setzte sich schnell wieder hin. Stattdessen schaltete
er öfter zurück und schonte sich. Mein Credo: Radfahren ist deshalb so schön, weil man den Sport im Sitzen betreiben kann.
Tief atmen statt flach
und kurz
Einen grossen Anteil am Erfolg in den Bergen hat die richtige Atmung. Es braucht viel Übung, macht aber den Unterschied aus: Mit tiefem und regelmässig-langem Ein- und Ausatmen dehnen wir unsere Lungen. So nimmt man bei
tieferer Herzfrequenz mehr Sauerstoff auf als mit kurzer und flacher Atmung.
Wer dabei die Hände am Lenkerrand oder in der Mitte ansetzt, öffnet seinen Brustkorb und atmet
leichter. Jetzt konzentriert man sich auf die Beine – und das Getriebe. Fahre mit hoher, aber nicht zu hoher Trittfrequenz. Man sieht oft Fahrer
und vor allem Fahrerinnen, die im leichten Gang fahren – und sich fast zu Tode
strampeln. Sie spüren zwar wenig Widerstand im Pedal, aber kommen auch kaum
vorwärts, weil die Miniübersetzung nicht genug Vortrieb erzeugt. Dafür steigt
die Pulsfrequenz, und das wollen wir ja nicht. Am Berg zählt der Mix: Nicht zu hart
treten, nicht zu leicht strampeln. Den Rhythmus finden, und rund weiter treten.
Wird es richtig steil, lassen viele die Frequenz fallen und treten
eine harte Mühle. Jetzt braucht es Willen und Kraft, nicht zu langsam zu werden: möglichst hoch kurbeln, härter am Lenker ziehen, das Brustbein nach vorne schieben. So kommt die Kraft möglichst direkt ins Pedal.
Die bösen Buben
verscheuchen
Bergfahren ist auch
Kopffahren. Für mich heisst das: Bei sich sein, konzentriert und leistungsbereit. Je höher die Konzentration, desto besser ist man unterwegs. Jeder muss selbst herausfinden, was ihm dabei gut tut. Ich hasse
es, immer den Gipfel ansehen zu müssen und schaue lieber weg. Andere fixieren
ihn und ziehen sich förmlich hin. In jedem Fall soll man negative Gedanken
verscheuchen: „Ihr habt hier nichts zu suchen!“ Tut es irgendwo weh: besser an etwas anderes denken! Den Berg als Gegner anzusehen,
den es nieder zu machen gilt, ist vielleicht an den härtesten Stellen angebracht. Aber
statt zu jammern „Oh nein, ist das steil!“, kann man eine giftige Rampe
einfach annehmen: „Wenn das der Weg nach oben ist, dann fahr ich da jetzt eben rauf!“. Auf die
Länge neige ich dazu, den Berg sogar als Kumpel zu nehmen, auch wenn er mitunter etwas ungehobelt auftritt. Aber meistens meint er es nicht so. Das hilft, sich nicht als schwaches
Geschöpf zu sehen, sondern als cleveres, fittes Gegenüber. Schliesslich wollen
wir doch nach oben, oder?
Ruhig atmen, aufrecht sitzen. Fokussierung und positive Gedanken bringen dich leichter nach oben.
Du bist ein Champion!
Bei langen Bergfahrten
bin ich oft mein eigener Coach. Er redet dauernd mit mir. Mal fordert er mich („hey, nicht
so schlapp, mein Freund!“), korrigiert („schön sitzen bleiben und Beine
zusammen“) und lobt mich („Du machst das wunderbar. Du bist ein echter
Champion!“). Das beruhigt, lässt einen konzentriert sein und hilft, Fehler zu vermeiden.
Und dann gibt’s ja noch ein paar Tricks. Einer sei verraten: In den Kurven
fährt man von aussen nach innen. Dort ist meistens ein flaches Stück. Für zwei,
drei Umdrehungen kann man sich da kurz erholen. Lächerlich? Bei einem Berg mit
20 Kurven sind das immerhin rund 60 Umdrehungen Erholung. So kann man den Berg
bezwingen – und ihn nebenbei augenzwinkernd zum Freund machen.