Museum für Blinde: Berühren macht Sehen

aus der Publikation "Lichtblicke" , Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, Oktober 2010

  Das Kunstmuseum in Sion im Schweizer Kanton Wallis ist das erste Museum der Schweiz für Blinde und Sehbehinderte.

jok. Er gehört zu den Menschen, die nicht lange herum machen. Er packt lieber etwas Halbes an, als auf das Ganze zu warten. «Ich setze Fragmente zusammen», sagt er. «Dabei improvisiere ich immer». Hervé Richoz muss das, er kann gar nicht anders. Denn wer nur drei Prozent sieht, hofft nicht, dass er alles fertig vorfindet. Da könnte er ewig warten. Richoz muss Informationen zusammenbauen, die für andere völlig klar sind. «Ich brauche gar nicht alles zu sehen«, sagt er. «Mir genügen die Teile, und die setzen meine Vorstellung in Gang. Dann sehe ich, was ich sehen muss.» Und weil er das offenbar blitzartig tut, merkt man gar nicht, dass er nahezu blind ist. 
Hervé Richoz arbeitet für den Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV. Zusammen mit der Ergotherapeutin Denise Javet vom SBV und den Fachleuten der Walliser Kantonsmuseen entwickelte er ein bisher einzigartiges Konzept für ein Museum für Blinde. Seit 2007 arbeitete man Sion daran. Jetzt ist es fertig. «Es war ein langer Prozess in kleinen Schritten, mal vorwärts, mal rückwärts», sagt er. Ein Schritt zurück aber ist für einen Sehbehinderten wie ihn nie ein Problem: «Das gehört zum Vorwärtskommen.»

Mehr Integration für Blinde
Richoz führt durch das Kunstmuseum Sion, hoch oben über der Stadt im alten Schloss gelegen. Er zeigt auch Orte, die andere Besucher nicht sehen. Da gibt es neben Kunst vor allem Steine, Mauern und Stufen. Wer nicht aufpasst, könnte stolpern. Richoz stolpert nie. Gehend und gestikulierend erklärt er die Geschichte dieses Projekts. Er redet mit Begeisterung, ohne Punkt und Komma. «Dieses Museum bietet uns Sehbehinderten nicht nur den Eintritt in die Kunst», sagt er. «Es schafft auch ein Gefühl vollkommener Integration.»

 
Foto: Schweiz Tourismus
Das Kunstmuseum thront auf einem Hügel über der Stadt Sion (rechts)


Ausgerechnet ein Museum, natürlicherweise auf visuelle Wahrnehmung ausgerichtet, soll diese Integration schaffen? Wer Hervé Richoz zuhört, begreift schnell: So unmöglich ist das alles nicht. Es braucht nur den Willen dazu. Und eine klare Vorstellung dessen, was blindes Sehen ist: Berühren mit allen Sinnen. Wobei Berühren auch im sozialen wie philosophischen Sinn gemeint ist. «Ein Blinder macht sich eine Vorstellung von dem, was ist. Wenn ein Sehender sich vorstellt, wie ein Blinder sieht, dann kann er ihm auch ein Kunstwerk zeigen.» Der Rest ist das geduldige Zusammensetzen von Teilen zu einem Ganzen – zu einem Museum für Blinde. Auch der SBV betritt damit Neuland. Er trägt einen Teil der Entwicklungskosten und finanziert die Blindenführungen im SBV-Jubiläumsjahr 2011.

Endlich: Eröffnung 2010
Im Oktober 2010 fand die erste Führung statt. Die Gruppe steht vor Caspar Wolfs berühmtem Gemälde der Dala-Schlucht. Neben dem Bild steht ein schwarzer Kasten. Als die Führerin ihn öffnet, kommt ein dreidimensionales Gipsmodell des Bildes zum Vorschein. Eine blinde Frau tritt näher und berührt mit der Hand die Schlucht. Langsam fährt sie mit zwei Fingern die Felsen entlang, tastet die Brücke. Dann greift sie mit der ganzen Hand in die Schlucht hinein: Zusammen mit den Erklärungen der Führerin erlebt sie das Bild, sieht es – durch Berühren.
Für ein Museum dieser Art braucht es ein paar innovative Elemente: Etwas zum Anfassen, also dreidimensionale Modelle der Kunstwerke. Dazu übersetzen spezielle Hörmittel und geschulte Museumsführer das Kunstwerk in die Sichtweise eines Blinden. Und nicht zuletzt muss es eine Architektur ohne Schranken geben. In den drei Jahren waren sich Richoz, Javet und die Museumsverantwortlichen nicht immer darüber einig, wie das geschehen soll. «Ein Museum für Blinde in einem historischen Gebäude! Erklären Sie das einmal einem Architekten», sagt Richoz. Und neben allen Details: Wie überzeugt man ein Museumspublikum davon, dass sich Kunst auch anders als über das Sehen wahrnehmen lässt? «Eine gehörige Portion Offenheit, Neugier und Respekt war nötig, um die jeweiligen Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen», sagt Liliane Roh, Koordinatorin des Projekts.

Die Welten zusammenführen
Einfacher wäre es gewesen, einfach ein neues Museum zu bauen. Doch genau das wollte man eben nicht. «Nicht isolieren, sondern integrieren» war die Absicht. Berührungsängste überwinden, um die sehende und die blinde Welt zusammenzuführen. «Deshalb wollten wir keine besonderen Räume einrichten oder vergrösserte Infotafeln oder Blindenschrift einsetzen», sagt Liliane Roh. «Wir wollten die behinderte Person nicht stigmatisieren.»
Also wählte man fünf Kunstwerke und machte sie Sehbehinderten in jeder Hinsicht zugänglich. Natürlich gibt es im Museum viel mehr Kunst. Aber das wäre zu viel des Guten. Die Aufmerksamkeit eines Sehbehinderten ist begrenzt. «Ein Sehender selektioniert seine Eindrücke. In einer Minute sieht er viel und denkt noch an alles Mögliche. So geht Zeit schnell vorbei», erklärt Richoz. «Ein blinder Mensch hingegen nimmt langsamer und viel intensiver wahr. Für uns ist eine Minute eine volle, ganze Minute. Eine lange Minute.»

Geöffnet täglich ausser Montag, 11 – 17 Uhr. 
Information: 027 606 46 90 , www.museen-wallis.ch