Die Melancholie hat ein
schlechtes Image.
Der Spassgesellschaft steht sie
im Weg, deshalb
wird sie zum Unglück
abgestempelt. Zu Unrecht.
Denn sie ist Quelle von
Kreativität und
Lebensfreude. Sie ist geradezu
ein Glück.
Der Versuch einer Rehabilitation.
Von Johannes
Kornacher
Da ist er wieder, der Blues. Der Blick hinaus auf die kahlen Bäume, viel zu
lange. Man hat keine Lust auszugehen, sich abzulenken. Steht lieber am Fenster
und hängt den Gedanken nach. Da war doch kürzlich dieses Gespräch mit dem
Vater. Der Besuch in der Heimatstadt. Oder der Blick auf die Fotogalerie im Flur,
wo man sonst achtlos vorbeigeht. Der Hund liegt faul auf seiner Decke, und
gerade jetzt fühlt man diese Liebe für ihn. Und da ist der Gedanke an den
geliebten Menschen. Was, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre? So ist sie,
die Melancholie: eine sanfte, nachdenkliche, bittersüsse Stimmung. Nicht
schlimm. Nur ein bisschen wehmütig, sogar traurig. Kommt Ihnen das bekannt vor?
Dann gehören Sie zu den rund 30 Prozent aller Mitteleuropäer, die sich zur
Melancholie bekennen. In Wirklichkeit ist Melancholie überall. Schon Kinder
haben die Fähigkeit dazu.
Sie ist fast alles – nur nicht Depression
Um was geht es hier genau? Schwermut, Depression, Pessimismus? Wir fragen einen, der es genau weiss. Tobias Ballweg ist Psychologe und Philosoph und
behandelt am Sanatorium Kilchberg am Zürichsee Menschen mit Burnout und
Depression. „Melancholie ist Nachdenklichkeit, das Hören auf Zwischentöne, ein
Innehalten“, sagt er. „Ganz bestimmt ist sie jedoch weder krankhaft noch
therapiebedürftig.“ Täglich sieht er es, das Grübeln der Menschen, ihre
Selbstvorwürfe, Schuldgefühle, Ängste, ihre tiefe Verzweiflung und dunkle
Ausweglosigkeit. „Depression ist permanente Niedergeschlagenheit,
Antriebslosigkeit und oft sogar Todesnähe.“ Mit diesem Begriff sollte man
achtsam umgehen, denn hier sprechen wir von Krankheit mit eindeutigen
Symptomen. „In der Depression ist die Lebensbewältigung stark eingeschränkt“,
weiss Ballweg.
Melancholie hingegen ist symptomfrei, eine Art Gegentypus zur Depression. Im Gegensatz zur Depression ist sie nicht unkontrollierbar. Zwar kann sie in Traurigkeit oder depressive Verstimmung abgleiten. „In der Regel kann man sich daraus aber selbst wieder herausziehen“, sagt Tobias Ballweg. Durch Denkarbeit zum Beispiel, indem wir ein Problem, Gefühl oder eine Stimmung zulassen und uns damit auseinandersetzen. Manchmal fühlen wir uns vielleicht ein paar Tage lang niedergeschlagen. Aber irgendwann kann der gesunde Mensch seine Selbstheilungskräfte, die Resilienz, ins Spiel bringen und seine Traurigkeit überwinden. Müssen wir hingegen einen Verlust oder eine grosse Enttäuschung verarbeiten, kann es länger dauern. Denn dann sind Verwundung und Schmerz im Spiel, und die brauchen Heilung und Zeit.
Heitere Nachdenklichkeit
Melancholie ist anders. Ein gängiger Begriff zwar, aber oft falsch benutzt.
Melancholie verletzt nicht. Sie kränkt nicht. Sie siedelt sich irgendwo an
zwischen Traurigkeit und Träumerei. Sie ist nicht Rührseligkeit oder Sentimentalität. Melancholie ist „Fifty Shades of
Gefühlswelt“, sagt der Autor und Kabarettist Bänz Friedli und nippt am Grüntee.
Erst die Gemischtheit der Gefühle, die Gegensätze machen das Leben aus, findet
er. Die Idylle sei zwar schön, aber pure Illusion. „Eine Postkarte stimmt nie.
Der ungetrübte Anblick ist falsch – und fad!“
Friedli, der als Hausmann-Kolumnist bekannt wurde, ein schönes Sujet von
Melancholie, lächelt verschmitzt. Es gibt so etwas wie eine heitere
Nachdenklichkeit, sagt er. „Es ist doch schön, wenn das Leben etwas zu denken
gibt.“ Kürzlich habe ein Kritiker in seinem Programm neben Witz auch
Melancholie entdeckt. „Das ist ein Kompliment!“
Heute sei alles gegenwärtig, Nachrichten verbreiten sich in Windeseile über
die Welt, wir erleben Himmel und Hölle zu jeder Zeit. „Wie willst du dir da
deine Heiterkeit bewahren?“, fragt er und liefert gleich die Antwort: „In
meinem Leben gab es immer Lieder, die mir diesen Zwiespalt erklärten.“ Er nennt
J.J. Cale, Leonhard Cohen, Wolfgang Niedeken, Jiovanotti und den Berner
Songwriter Trummer. Friedli war früher Musikjournalist, Musik ist Teil seines
Lebens. Sie ist für ihn viel mehr als akustische Kunst, auch ein emotionales
Organ. Die Leber der Seele? Er grinst und nickt. „Wir finden doch im Tod das
Leben, und in der Trauer den Humor.“
Musik ist oft melancholisch. Ein grosser Teil von Pop, Jazz oder Klassik
klingt entweder melancholisch, oder entstand, wie etwa bei Mozart, aus einem
Zustand der Melancholie in Aufbruch und Lebensfreude. Wohin man hört: im
amerikanischen Blues, im portugischen Fado, den französischen Chansons, den
Heurigenliedern Wiens, bei den Cantaudori in Italien oder in russischen
Liedern: Die Weltstimmung heisst Melancholie.
Die Abgründe sehen, ohne zu
verzweifeln
Ist Melancholie also eine Art Lebenshilfe, um an den Widersprüchen oder dem
Elend des Lebens nicht zu verzweifeln? Der Psychologe Tobias Ballweg bringt
diese Frage auf einen Nenner: „Wir Menschen haben vier grundlegende Varianten
der Lebensbewältigung. Erstens: Die rosa Brille, die nichts Negatives an uns
heranlässt. Zweitens: Verleugnen oder verdrängen, damit alles „easy“ bleibt.
Drittens: Die Depression, das Scheitern an der Diskrepanz zwischen Wunsch und
Wirklichkeit. Und viertens: Die Melancholie, die Fähigkeit, gelassen
hinzunehmen, was sich nicht ändern lässt. Der Melancholiker kann hinabschauen,
ohne zu verzweifeln.“ Oder anders gesagt: Das Leben als Zumutung akzeptieren
und es dennoch geniessen. „Die Melancholie ist mehr als ein emotionaler
Zustand“, so Ballweg, „sie ist eine Einstellung zur Wirklichkeit, eine
Haltung“.
Dabei machen es sich klassische Melancholiker gewiss nicht einfach, was sie
von den Stoikern unterscheidet. „Melancholiker setzen sich auseinander mit den
Dingen, die sie beschäftigen, und sie leiden auch daran“, sagt Tobias Ballweg.
„Etwa mit der existentiellen Dimension des Daseins, der Verletzlichkeit,
Sterblichkeit, mit Schicksal oder Kontrollverlust.“ Die Einsicht in die
Vergeblichkeit alles Strebens können sie aber hinnehmen, sogar heiter sein,
denn sie sehen auch die Schönheit des Daseins.
Eher Chiller als Revoluzzer
Er lehnt sich gern an, der Melancholiker, wie James Dean, der
melancholische Rebell. Oder stützt seinen Kinn in den Handballen, nachdenkend
und nach Antworten suchend. Als Jugendlicher gibt er den sensiblen Desperado,
„der sein unbestimmtes Weh und den umflorten Blick trägt wie das Markenzeichen
seines Polohemds“, schreibt Mariela Sartorius in ihrem Buch „Die hohe Kunst der
Melancholie“. Der Jung-Melancholiker sei sich seiner geheimsnisvollen Aura wohl
bewusst, glaubt sie. Vielleicht kokkettiert er manchmal damit, um seine
Verunsicherung zu kaschieren, wenn die Dinge in seiner Sicht wieder einmal
überhaupt nicht zusammen passen. „Was ist denn?“, wird er gefragt. „Nichts“,
murmelt er, und senkt den Blick.
Sartorius findet, der Melancholiker hängt gerne ab, „der typische Chiller“.
Schlendert eher durch die Strassen, und gehört nicht zum hopsenden Typ
Springinsfeld. Ballweg sieht hier keinen Revoluzzer, „man findet ihn
kaum auf den Barrikaden.“ Melancholiker sind weder rastlose Selbstoptimierer,
noch wollen sie die Welt retten, denn sie ahnen: Es führt zu nichts.
Der Münchner Psychotherapeut Josef Zehentbauer erkennt in seinem Buch „Die
traurige Leichtigkeit des Seins“ in der Melancholie besinnlich-tiefgreifende
Befindlichkeiten. „Leidvolles beeindruckt mehr als Freude und Glück.
Entscheidungen reifen lange.“ Mitmenschen gegenüber verhält man sich
feinfühlig, warmherzig und zuverlässig. Der Hang zur Nachdenklichkeit bringt
einen grossen Vorteil: Melancholiker denken über alles mögliche nach. „Sie
haben einen Sinn für Dinge, die andere für bedeutungslos halten“, sagt Tobias
Ballweg. „Auf einem Flohmarkt oder auf dem Friedhof blühen sie auf.“ Das kann
romantisch sein, ist aber auch ein Schlüssel zu Poesie und Kunst.
Klamauk schliesst
Melancholie nicht aus
Melancholie ist vielleicht nicht Poesie, aber sie führt zu ihr. Und die
Verbindung zum Humor ist augenfällig. Wo Poesie ins Spiel von Sinn, Unsinn oder
Absurdität mündet, entsteht der Witz. Doch fragt man Berufshumoristen, kann man
sich schon mal einen Korb holen: etwa vom Satiriker Lorenz Kaiser. „Lange bevor
ich schwermütig werde, werde ich sauer“. Auch Emil Steinberger winkt ab. „Dazu
kann ich nicht viel sagen.“ Anders der Kollege Gerhard Polt. Sein Antrieb fürs
Kabarett sei „aktive Resignation“ - ein klassisches Melancholiker-Statement.
Und einer, uns Schweizern als robuste Gagmaschine bekannt, und der sich dabei
Dinge ausdachte wie das Weihnachtslied „Oh stille mich, du fröhliche“,
wird jetzt nachdenklich. „Ich
habe an der Reuss ein Plätzli“, erzählt Peach Weber, „dort sitze ich oft und
denke wichtige Dinge durch“. Nicht immer komme dabei was Gescheites raus, aber
an eines denke er jedes Mal: „Dieser Fluss fliesst da seit tausend Jahren
vorbei und ist stets derselbe“. So etwas kann nur jemand sagen, der sich nicht
so wichtig nimmt und seine existentielle Begrenztheit akzeptiert, erleichtert,
fast genüsslich - ein Melancholiker. „Mit einem Lächeln auf den Lippen“, so
Tobias Ballweg.
Weber („Ich bin Halbtagsphilosoph“) hat Tausende von Gags geschrieben,
selten sind sie nachdenklich. Er hat aber auch eine melancholische Kinderfigur
wie den Zwerg Stolperli geschaffen, der stolpernd, aber glücklich durchs Leben
geht. „Melancholie hat etwas mit Urvertrauen zu tun, und mit Gelassenheit.“ Er
habe das Glück dieses Urvertrauens. Und dass seine Tochter es auch besitzt,
mache ihn melancholisch-glücklich. „Die Melancholie kommt und geht. Sie ist was
vom Schöneren im Leben.“
Wie ein weiches Bett
Alain Mieg ist Kunstmaler. Er malt Horizonte, Himmelssphären. Dinge, die
wir manchmal sehen, wenn wir etwa auf 12000 Metern Höhe aus dem Flugzeug sehen.
Farben in tausend Schichten, fast surreal und doch gegenwärtig. „Himmlische
Traumlandschaften“ nennt er lächelnd seine Bilder. „Oft versinke ich tagelang
in einer Stimmung, die sich wie ein sanfter Mantel anfühlt“. Dann sei er
nachdenklich, dünnhäutig, sensibel – und kreativ. Diese sanfte Melancholie sei
ein wichtiger Teil seiner Kunst. „Wenn sie sich ankündigt, freue ich mich. Es
ist, wie wenn ein guter Freund zu Besuch kommt.“ Das alles schildert er mit
aufgeweckten, fröhlichen Augen. Keine Spur von Schwermut. Auch nicht von Wahn,
wie sein berühmter Kollege Max Ernst einst behauptete: „Kunst braucht
meditative und halluzinatorische Fähigkeiten.“ Da ist er wieder, der Schubs der
Melancholie in den Irrsinn.
Kippstelle zwischen Wahnsinn und Genie
Als Kulturbegriff führte die Melancholie ein bewegtes Leben. Durch die
Überschneidungen kultureller, theologischer und sozialer Elemente entstanden
völlig verschiedene Melancholietypen. In der Antike wurde sie als
„Schwarzgalligkeit“ bezeichnet, war dennoch hoch geschätzt als philosophischer
Charakter hochbegabter Denker. „Warum erweisen sich alle aussergewöhnlichen
Männer in Philosophie, Politik, Dichtung oder in den Künsten als
Melancholiker?“, wunderte sich etwa der Philosoph Theophrast.
Die seelische Gestimmtheit des Menschen war nach der von Galen entwickelten Temperamentenlehre von den Körpersäften abhängig. Sie
bringen das cholerische, melancholische, phlegmatische oder sanguinische Temperament hervor. Daher der Begriff der „schwarzen Galle“, lateinisch
„Melancholia“, ein Zuviel an Gallenflüssigkeit. Sie mache den Menschen „krank“.
Die schwarze Galle, so hiess es, korrespondiere mit dem Element Erde, dem Herbst, dem Erwachsenenalter, dem
Nachmittag. Bei aller Skepsis: Man war der Melancholie freundlich gestimmt.
Schuld des Herzens
Doch im Mittelalter war es mit der Freundschaft vorbei. Melancholie sei
„Todsünde und Instrument des Teufels“, wetterte Kirchenvater Cassianus. Tobias
von Aquin beschimpfte die „Acedia“ als „Müdigkeit der Seele und Schuldigwerden
des Herzens“. In der Aufklärung wurde sie mit Hysterie und der Schwäche des
Nervenssystems gleich gesetzt. In der Romantik erging es ihr kaum besser:
Melancholie wurde zur Depression abgestempelt. Der Mediziner Johann Reinroth,
Präger des Begriffs der Psychosomatik, erkannte eine „Unfreiheit des Gemüts und
Depression der Empfindungen“. Noch bis weit ins 20ste Jahrhundert war
Melancholie nichts anderes als die Krankheit Depression. Nach dem zweiten
Weltkrieg begann die wissenschaftliche Differenzierung, und seit etwa 1970 ist
endlich klar: Depression ist eine Krankheit. Und Melancholie ein Gemütszustand
und eine Charaktereigenschaft.
Schon als Kind Melancholiker
Der Maler Mieg ist schon als Kind melancholisch und introvertiert. Manchmal
ist seine Melancholie dunkel. Er erkrankt an Hirnhautentzündung und durchlebt
Grenzerfahrungen mit langem Fieber, Schmerzen, Einsamkeit. Früh verliert er
seine Mutter und versinkt in Traurigkeit. Bevor Mieg Teenager wird, hat er
schon tiefe Verluste und Ängste erfahren. Doch er sei daran gewachsen, sagt er
heute. Mit 13 will er Maler werden, hat mit 19 die erste Ausstellung. Er wird
erst Drucker, dann Schriftenmaler, Werber. Mit 35 macht er sich als Maler selbständig.
Malen ist eine einsame Tätigkeit. Dazu muss man alleine sein können, bereit für
Meditation, eine Reise der Gedanken und Gefühle. „Man muss die Melancholie an
sich heranlassen“, sagt er. „Dann ist sie leicht wie ein weiches Bett“.
Warum sie ein schlechtes
Image hat
Klingt doch alles recht sympathisch, möchte man meinen. Melancholie macht
das Leben leichter. Warum meiden sie dann viele von uns? Warum verdammt sie
unsere Spass-, Glücks- und Leistungsgesellschaft wie der Teufel das Weihwasser?
„Weil das Rad dann auch mal still steht“, sagt Tobias Ballweg. „Das kann für
manche Menschen unerträglich sein.“ Gefühle werden als bedrohlich erlebt, man
blendet sie lieber aus und will nicht hinschauen: Da könnte sich ja das eine
oder andere als Luftblase herausstellen. Ballweg arbeitet häufig mit
Burnout-Patienten. Stress hat sie krank gemacht: der Stress, perfekt sein
wollen, die Angst, Ansprüchen nicht zu genügen, zu scheitern, zu versagen,
ausgeschlossen zu werden. Und dann fehlen die Selbstheilungskräfte, die
Robustheit, um sich alleine zu regenerieren. Melancholiker haben in der Regel
diese Robustheit oder Resilienz.
Herr Ballweg, müssen wir also demnächst mit Ratgebern „Melancholie lernen
in zehn Schritten“ rechnen?“ Er lacht. „Das ist absurd. Man kann Melancholie
nicht lernen.“ Aber man könne lernen, Erfahrungen und Fragen an sich
heranzulassen, weniger zu verdrängen, kontemplativer zu werden. Es muss ja
nicht gleich ein Gang über den Friedhof sein. „Schon die Einsicht, dass die
Jagd nach dem Glück alles bringt, nur kein Glück, kann heilsam sein“. _______