Auf ein Heffiewaisson im nordkalifornischen Sommer


Es ist schön in Kalifornien. So schön, dass einem nur noch eins bleibt: zwischendurch mal ausführlich zu meckern.


Heute ist Sommer und der Himmel noch blau, als ich aufwache. Der Blick durchs Dachfenster gibt immer einen ersten Eindruck des Tages. Aber schon als ich aus dem Bad komme, schleichen die ersten Nebelschwaden durch die Bäume vor dem Haus. Der Bambus auf dem Balkon biegt sich im Wind, die Luft ist wunderbar frisch. Aber Sommer ist das eigentlich alles nicht. 18 Grad, nachmittags werden es vielleicht 23, doch die bewegte Luft fühlt sich kühler an. Du fährst im Auto auf die Highway 1, die Fenster unten, es zieht schön durch Hemd und Haare, aber schon bei Tempo 70 wird es ungemütlich. Vorbei an Palmen, braun-gelben Hügeln, auf die es im Sommer nie regnet. California, for heavens sake! Schnurrend fährt das Fenster wieder hoch.

Blick von Aptos auf die Monterey Bay.


Es ist August und zu frisch für offene Fenster, für Shorts und kurzes Hemd. Nur damit das in Europa mal klar wird: Das Klischee vom Immer-warmen-Kalifornien trifft nur auf den Süden zu. Hier im Norden entlang der Küste ist es anders. Gestern verbrachten wir den Nachmittag auf dem Sofa, lesend, bei Tee und mit einer Decke über den Füssen. Jetzt strömt durch die halboffene Schiebetür kühle Luft, und ich bin knapp davor, einen Pullover anzuziehen. Wie an einem dieser kühl-regnerischen Sommertage in den Alpenländern, wenn der Sommer sich wieder mal verausgabt hat und es über Nacht so stark abkühlt, dass es anderntags nicht mehr richtig warm werden will. So ist es in Nordkalifornien an der Küste im Sommer häufig: eine Spur zu kühl. Der Grund liegt weiter östlich: Das Wüstenklima des Central Valley saugt die kühle Pazifikluft an, die dann aber in den Bergen hängen bleibt. Im Valley bleibt es glühend heiss, während die Küste Nebel und Wind abkriegt. Dabei bläst es meist aus West oder Nordwest. Dreht der Wind auf Südost, kühlt es im Valley ab, und hier an der Küste wird es etwas wärmer: Dann ist auch hier Sommer, bei moderaten Temperaturen bis 25 Grad. Und immer dabei: der Wind.

Gegen den Wind

Ach, der Wind. Als Rennradfahrer hasse ich ihn. Obwohl es schon ein adrenalinförderndes Gefühl ist, auf der Highway 1 dem Pazifik entlang von Davenport nach Santa Cruz zu fahren, mit vier Beaufort Wind im Rücken. Was heisst fahren – fliegen! Trotzdem: Lieber wäre mir kein Wind. Bin schliesslich nicht darauf angewiesen, geschoben zu werden. Und man fährt auch öfter gegen den Wind als mit ihm. Meistens auf dem Weg nach Hause hast du ihn im Gesicht. Wind auf dem Rad ist wie Einkommensteuer: Du lebst eine Zeitlang gemütlich, aber irgendwann kommt die Rechnung, und dann wird’s ruppig.


Blick nach Süden on Highway1


Windstill ist es hier an der Küste so gut wie nie, und das führt auf dem Rad immer zu Kämpfen. Aber viel schlimmer sind die miserablen Strassen hier im Santa Cruz County. Das kann man sich als Mitteleuropäer nicht vorstellen. Die Beläge uralt, wahrscheinlich noch aus der Goldgräberzeit, brüchig, löchrig, immer wellig und rau, mindestens mit Rillen. Wenn sie hier ein Loch flicken, bleibt meist eine Kante, weil sie nur schnell mit Schaufel draufhauen. Wenn sich überhaupt jemand berufen fühlt, ein Loch im Asphalt auszubessern. Oder die abgebrochenen Brocken wegzuräumen. Ha, das grenzte an ein Wunder!
Ab und zu gibt es mal neuen Asphalt, und man denkt sofort an Luxus und Verschwendung. Aber schon nach ein paar Hundert Metern ist wieder Schluss. Vielleicht hatten da ein paar Kerle Mitleid und begannen, die Strasse neu zu teeren. Bis plötzlich der Chef vom Tiefbauamt auftaucht, sie an den Ohren zieht und schreit: "Ihr seid wohl völlig verrückt geworden! Dieser Belag ist doch erst hundert Jahre alt. Wo kommen wir den hin, wenn wir das überall machen würden, Ihr blöden Deppen!"

Dann würde er ihnen vielleicht vorrechnen, was so eine Meile kaputter Belag finanziell bringen kann: Alle, sagen wir mal konservativ, alle sechs Meter ein Loch, in das pro Woche zehn Radfahrer hineindonnern. Macht, wieder konservativ, fünf neue Reifen, mal 40 Dollar, sind 200 Dollar, mal 266 Löcher pro Meile, rechne! 212.800 Dollar Reifenumsatz, das sind bei 8 % Salestax rund 17000 Dollar Steuereinnahmen im Monat. Und das pro Meile! So wirtschaftet man erfolgreich. Damit kann man zum Beispiel das Benzin finanzieren, das die Polizei verfährt, wenn sie Obdachlose aufgreift und an die Countygrenze kutschiert, sie dort absetzt und anbrüllt: "Lasst euch bei uns nie wieder blicken!" So viele Löcher hat man halt doch nicht, um diese Leute auch noch durchzufüttern.


 

Sieht besser aus als er ist: Strassenbelag bei Santa Cruz.

Strassen, die einfach ruhig und glatt laufen - das ist etwa wie Höflichkeit in einem deutschen Linienbus: gibt’s eher nicht! Für einen Radfahrer kommt da nicht nur eine markant niedrige Geschwindigkeit heraus, sondern vor allem ein Körper und Material schindendes Geschüttel und Gerüttel. Da ahnt man schon, wie Parkinson sich dereinst anfühlen könnte. Und die Reifen sind nach etwa 1500 km nicht einfach abgefahren, sondern sehen übel mitgenommen aus, als hätten sie ständige Raufereien mit wilden Kerlen hinter sich.

Sie können es nicht

Ja, die Strassen. Besonders fies sind die kleinen Bodenwellen, die man oft nicht sieht, je nach Stand der Sonne. Diese Löcher und Wellen dürften, anständige Arbeit vorausgesetzt, eigentlich gar nicht da sein. Aber die können hier gar keine richtigen Strassen bauen. Schon die Unterlage ist zu weich, die Asphaltmischung zu grob, und sie verwenden nicht die richtigen Maschinen, um den Belag glatt zu walzen. Auf der Browns Valley Road haben sie etwa eine Meile lang einen neuen Streifen eingesetzt. Der ist noch holpriger als der alte Belag daneben. Und dann donnern sie mit ihren lächerlichen Pickuptrucks solange drüber, bis er wegbröselt. Wobei man das nun wirklich eher kulturell betrachten sollte: Hier im wilden Westen ersetzen diese tonnenschweren Achtzylinder-Ungetüme für viele Leute das Pferd. Der moderne Cowboy sitzt etwa gleich hoch, aber bequemer, selig mit einem Gefühl von Freiheit und Abenteuer, auch wenn er nur eben mal im Safeway Milch, Mayonaisse und Bier einkauft.


Luftiger Job im 42. Stock: Fensterputzer an den Fassaden von Los Angeles


Eigenartig, dass manche Menschen das Geld haben, um mit benzinfressenden 20-Liter-Monstern herumzufahren, bei einem Dollar pro Liter. Aber nichts auf dem Sparkonto, keine Krankenversicherung, und null Ahnung, wovon sie im Alter leben sollen. Doch irgendwie verwundert das nicht, leisten sich doch die Amerikaner in Washington ein Parlament, das in den letzten vier Jahren nicht in der Lage war, ein verbindliches Haushaltsbudget zu verabschieden. Ein Parlament, dessen unglückliche Mehrheit absichtlich und aus Machtkalkül den eigenen Staat in den Bankrott treibt. Politik mit dem Messer am Hals: Das schafft sonst höchstens noch Italien. Republikanische Kongressmitglieder stimmen gegen das Staatsbudget, worauf die Regierung die Gehälter nicht mehr bezahlen kann. Der Shutdown, die Haushaltsperre, ist die Folge, Hunderttausende Staatsbedienstete müssen zu Hause bleiben. Beim letzten Shutdown mussten auch die Fluglotsen aussetzen, und erst als die Parlamentarier begriffen, dass sie deswegen am Wochenende nicht nach Hause fliegen konnten, wurde im Eilverfahren beschlossen, die Fluglotsen mit der Lohnaussetzung zu verschonen. Politiker sind pragmatische Leute! Jetzt blockieren die Ultra-Konservativen den Haushalt und lassen nur mit sich reden, wenn Obama im Gegenzug sein neues Krankenversicherungsgesetz kippt. Mit dieser Erpressung wollen sie noch verhindern, dass endlich jeder Amerikaner hat, was allen Kongressabgeordneten längst per Gesetz zusteht: eine Krankenversicherung. Die Republikaner nehmen den Staat als Geisel, weil sie ihr Ziel verfehlt haben. Denn "Obamacare" hat längst alle politischen Instanzen absolviert und wurde vom höchsten US-Gericht bestätigt. Wenn da jetzt jemand auf die Idee kommt, etwas könnte nicht stimmen: Yeah!

Keiner versteht das

Die USA haben genug Geld, nur wo wird es ausgegeben? Man leistet sich Billionen verschlingende Kriege, die nur der Rüstungsindustrie nutzen. Aber man investiert nicht in ordentliche Bildung oder Infrastruktur, nimmt es hin, das Millionen in Armut leben, und kümmert sich nicht um die eigenen Leute. Die Hinterbliebenen der Feuerwehrleute, die kürzlich bei einem Busch-Grossfeuer in Arizona ums Leben kamen, als sie Siedlungen schützen wollten, bekommen kein Geld für das Begräbnis, geschweige denn eine Pension. Die gibt’s nur für Vollzeitstellen und erst nach über 15 Jahren als „Firefighter“. Es reichte aber, um ihr Leben für die anderen zu lassen. Logisch ist das nicht, aber darum geht es nicht in einem Land, in dem Obdachlose die Regel und nicht die Ausnahme sind. In dem junge Männer mit 19 in den Krieg ziehen, aber wenn sie ein Jahr später zurückkommen, dürfen sie nicht mit einem Bier drauf anstossen, dass sie überlebt haben. Absurdistan: Bier trinken ist erst mit 21 legal, Autofahren schon mit 16. Das versteht keiner, aber es ist trotzdem so.

Liebenswürdig freundlich


Dafür sind die Menschen hier noch richtig höflich. Da fährt dir im Supermarkt niemand von hinten über die Schulter, knapp unter der Nase durch ins Regal und schnappt sich einen Yoghurt. Hier haben die Leute Anstand, ich weiss auch nicht, woher. Keiner drängelt. Selbst wer keinen Anstand hat, drängelt nicht. Man grüsst und entschuldigt sich, wenn man an jemandem vorbei will. Und diese etwas grobe alemannische Direktheit, die haben sie auch nicht. Wie angenehm! In den USA würde man etwa sagen, es sei eine Frage der Kultur, dass Deutsche zum Beispiel zu Sandalen Socken tragen. Die Amerikaner sagen nicht: Das sieht vielleicht bescheuert aus! Nein, sie legen nahe, es sei wohl kulturell bedingt. Die haben noch eine Kultur der Freundlichkeit! Very nice! Andernseits: Die Chance, dass zum Beispiel beim Elektrischen etwas schief läuft, liegt ziemlich hoch. Vielleicht, weil hier die Stromkabel kulturbedingt noch in den Strassen herumhängen und dadurch öfter der Strom ausfällt, je nachdem, ob irgendwo gerade ein Ast bricht oder der Sturm einen Baum fällt. Gestern fuhr ich auf der 7th Avenue hinter einem Lastwagen, der wohl eine Spur zu hoch gebaut war. Oder die Stromleitungen zu niedrig, die quer über die Strasse, ja das ist hier so, die kreuz und quer über die Strasse gespannt sind. Jedenfalls haben die armen Leute jetzt mindestens zwei Tage lang keinen Strom und müssen brühwarmes Bier trinken. Auch kein Fortschritt, das.


Ja logisch, bloss nicht denken

Ja, die Kultur der Qualität. Manche haben sie, andere nicht. In Mitteleuropa hat etwa ein Elektriker eine dreijährige Ausbildung hinter sich. In den USA reichen schon 110 Volt, man wird kurz angelernt und macht dann eine Prüfung. Sie kann nicht allzu schwer sein. Sonst hätten wir nicht das, was wir in unserem Keller haben: Eine Türe zum Garten, daneben einen Lichtschalter, praktisch, wenn man von draussen kommt. Will man nun aber weiter ins Haus, gibt es auf der anderen Seite des Kellers keinen Schalter, um das Licht wieder auszumachen. Der Elektriker, dem ich das Problem zeige, zuckt nur mit den Schultern und sagt, das sei in amerikanischen Häusern normalerweise so geregelt. Oh, really? Das ist dann doch überraschend für eine Nation, die es immerhin schaffte, ein Geländefahrzeug auf dem Mars abzusetzen. Ich vermute, ich blickte den Mann mit einer Mischung aus Geringschätzung und Erheiterung an. Das könnte er als arrogant empfunden haben, und das tut mir ja auch leid, aber hey, das ist doch Schrott, oder?

Bitte ein Heffiewaisson!

Bin ich jetzt völlig unentspannt? Ist man ein nörgelnder, besserwissender Perfektionist, wenn man will, dass die Dinge anständig abgewickelt werden? Kürzlich war ich ein Bier trinken. Früher ging so etwas aus europäischer Sicht in den USA nicht, ohne zu verzweifeln. Das hat sich geändert. Überall im Lande gibt es inzwischen hervorragendes Bier, etwa ungefiltertes Weizenbier wie das Golden Biersch. Der Besitzer der Brauerei in San Jose ist Absolvent der Fachhochschule Weihenstephan, was nicht zwingend ist, um gutes Bier zu brauen, aber es hilft. Es ist nicht chauvinistisch gemeint, aber sein Bier ist grossartig.


Here we go: A Heffiewaisson!



Ich bestellte also ein Weizenbier. Die Bedienung, eine Frau mittleren Alters, die, wie sie mir erzählte, vor langem aus Norddeutschland nach Kalifornien kam, was zugegeben ein langer Weg ist, und irgendwie merkte man ihr das auch an, na, das war jetzt gemein von mir. Sorry! Jedenfalls giesst sie das Bier ins viel zu breite Glas, lässt aber die Hefe auf dem Flaschenboden zurück. So etwas macht mich leicht reizbar. Als ich freundlich protestiere und erkläre, Hefe eines Weizenbiers gehöre ins Glas, weil es sonst kein richtiges Hefeweizen (Heffiewaisson ausgesprochen) sei, sagt sie beleidigt: „Ich weiss das nicht, ich trinke kein Bier.“

Ist perfekt spiessig?

Solche Antworten werfen Fragen auf. Soll ich mir nur vorstellen, das Bier könnte richtig gut schmecken, wäre es richtig gut eingeschenkt? Mich nicht so blöd anstellen? Ist ein Perfektionist einer, der es immer perfekt haben will, oder bloss einer, der sich ärgert, wenn etwas nicht perfekt ist? Ist perfekt ein bisschen krank, schon nicht mehr normal? Zumindest total spiessig! Oder ist die Begründung, dass die Dame ihren Job nicht richtig macht, weil sie kein Bier mag, so richtig wie etwa wenn ein Arzt sagt, er könne einen Blinddarm nicht richtig operieren, weil er seinen noch hat? Vielleicht habe ich hier auch nur etwas fundamental falsch verstanden.

Als Landschaft unschlagbar: Nordkalifornien bei Ana Nuevo

 

Das Leben ist nicht gerecht

Ich weiss es nicht. Doch ich finde es ungerecht, und das gilt überall, weltweit, dass Leute mit einer solchen Einstellung locker durchs Leben kommen, und andere sind zum Beispiel 53 und finden als Redakteure oder Chemiefacharbeiter keinen Job mehr, obwohl sie gute Redakteure und Chemiefacharbeiter sind und ihre Arbeit lieben. Jetzt mal nur so ganz nebenbei gefragt: Hätten Sie als Redakteur die Nachricht, die Sie nicht mochten, etwa dass Helmut Kohl heute noch dazu steht, dass er vor 25 Jahren gesagt hat, die Türken gehörten eigentlich zurück in die Türkei, hätten Sie diese Nachricht falsch redigiert? Zum Beispiel geschrieben, der Kohl sagt so was, sei aber im Grunde seines Herzens ein Türke? Und wenn der Leser dann protestiert, das stimme ja gar nicht, hätte der Redakteur dann gesagt, das tue ihm jetzt leid, aber er wähle ja nicht CDU? Naja, die CDU ist nicht unbedingt eine Nachricht, ein Bier auch nicht, und vielleicht ist das alles jetzt ein bisschen kleinlich und total kompliziert. War auch nur so ein Gedanke, als ich auf die Hefe auf dem Flaschenboden sah. Und das Bier im Glas war so klar, schrecklich klar.  

Anything goes – or not

Das mit dem Bier hätte mir auch in Zürich passieren können, in Dresden oder in Freiburg im Breisgau. Es gibt überall Leute, die etwas verkaufen, was sie selbst nicht mögen. Oder nicht mögen, dass sie etwas verkaufen. Oder glauben, es reiche schon, wenn sie etwas verkauften. Da kann man als Kunde schon mal Pech haben. Aber es könnte auch vorkommen, dass jemand das Bier perfekt einschenkt. Indem er das Glas kalt ausspült, einen Schluck Bier hinein kippt, es stehen lässt, bis der Schaum beginnt, zusammenzufallen. Dann hält er das Gefäss schräg und giesst das Bier hinein, langsam genug, damit alles hineinpasst, aber so schnell, dass ein schöner Schaum entsteht. Er lässt einen kleinen Rest in der Flasche, stellt das Glas hin. Dann schwenkt er die Flasche ein paar mal, bevor er das Restbier mit Schwung nachschüttet, worauf der Schaum noch ein bisschen aufsteigt und die weissliche, gelartige Hefe wie eine Qualle durchs Bier nach unten sinkt. Ein grossartiges, perfektes Weizenbier. Wonderbar trub, this Heffiewaisson. Proust, and have the honour!