Der Furz oder Feigheit vor dem Freund



3. Juni 2013
Manchmal verlässt einen einfach der Mut. Warum? Man weiss es nicht. Ein Mysterium, wie die Familiendynamik oder die Entstehung lästiger Körpergase.


jok. Wir alle sind ja zu Zivilcourage erzogen worden, der eine mehr, der andere nicht so sehr. Ich eindeutig mehr! Schon meine Eltern zeigten ein Ausmass an Mut darin, mich gross zu ziehen, das kann man sich kaum vorstellen. Sie arbeiteten hart. Sie hatten gute Vorsätze. Aber das alles reichte nicht. Sie brauchten Mut, um nicht einfach aufzugeben, sozusagen das Ding hin zu schmeissen. Es gab Fortschritte, kleine zunächst, aber wie oft mussten die armen Leute herbe Rückschläge hinnehmen! Doch sie gaben nicht auf, hängten sich richtig rein und vertrauten dabei auf Gott und die Welt.


Mutig mit schiefer Nase
Eine Art Durchbruch kam wohl an dem Tag, als ihr Sohn, gerade mal 13, milchig-langhaarig und ein bisschen, naja, sagen wir mal, grosszügig in der Erfüllung seiner schulischen Aufgaben, nachmittags im Stadtpark weilte. Beim harmlosen Jugendtreff hielt sich allerdings auch gelegentlich mieses Gesindel auf. Und so kam es, dass der junge Mann einen stadtbekannten Schläger daran hindern wollte, einen alten, wehrlosen Mann zu demütigen. „Lass ihn in Ruhe“, sagte ich. Ob meine Eltern später stolz waren ob der Zivilcourage, oder enttäuscht über so wenig Realitätsinn ihres Sohnes, ist mir nicht bekannt. Ich bekam jedenfalls zuerst das Knie in den Bauch und dann die Faust mehrmals und nachhaltig in die Fresse. Der Arzt stellte später „multiple Prellungen im Gesicht“ fest, im Volksmund als „blaues Auge“ oder „Veilchen“ bekannt, dazu erlitt ich zwei Risse in der Lippe und eine vorübergehend schiefe Nase. Ich lernte, dass es viel Mut braucht, mutig zu sein, auch danach.
Wenn man es genau nimmt, war ich eigentlich immer schon mutig. Schon bei meiner Geburt. Da begab ich mich als jüngster Sohn in eine Familie mit drei Töchtern. Als Wohnort wählte ich Bayern, genauer, das Allgäu. Ein überaus mutiger Schritt, wenn man ans Wetter, die CSU oder die Trachtenumzüge denkt. Kaum geboren, wurde ich Protestant, auch nicht unbedingt feige in einer Gegend mit 200 Prozent katholischer Bevölkerung. Später besuchte ich in meiner Heimatstadt eine so genannte Schule, bestückt mit pädagogischem Personal übelster Qualität. Sie machten mir das Leben schwer, und ich hasste sie. Vier Jahre habe ich mich erfolgreich gewehrt, so gut ich konnte. Das war mutig. Doch dann wollte ich mehr vom Leben. Mich verliess der Mut, und ich die Schule. Später heiratete ich, eine Entscheidung fast schon aus Übermut, wie sich später immer wieder herausstellte. Ausserdem wurde ich Vater, was mich zu einem dieser furchtlosen, blitzsauberen Burschen machte, die mit allen Wassern gewaschen sind.

Meister des Mutes
Ich wurde weltberühmt als der mutigste Mann, den es so gab. Eine Koryphäe des Mutes. Niemand hatte mehr Mut wie ich. Nur gestern, nun ja, da hatte ich so eine Art Aussetzer. Das kam so: Ich befand mich in einem dieser Kaufhäuser mit diesen schmalen Gängen zwischen diesen Regalen, Kleiderständern und Reklametafeln. Und es plagten mich diese wüsten Blähungen, was ich bis dahin völlig unter Kontrolle hatte. Doch jetzt war der Blähung zu viel. Ich fasste Mut und liess sie hinaus. Doch es passierte, was Menschen häufig passiert: sie unterschätzen die Wucht des Moments. Und so verabschiedete sich das Gas, anstatt mit einem sanften Schleicher, mit vernehmbarem, leicht quietschend-schlurfendem Ton. Instinktiv tat ich das Richtige, wechselte schnell die Gangrichtung, um nicht als Missetäter in Frage zu kommen, trat nach rechts und begann, diskret ein paar Hemden hin und her zu schieben, die still an einem Kleiderständer hingen.

Die strenge Schwester
Das war grosses Pech für einen vielleicht siebenjährigen Buben, der eben mit seinem Vater und den zwei Schwestern des Weges kam. Die älteste, etwa neun, aber mit strengem Gesicht, drehte sich blitzartig zu ihrem Bruder um und schleuderte den Zeigefinger auf ihn: „Du hast gefurzt!“ Der Bub blieb stehen, Entsetzen in den Augen. „Nein, habe ich nicht!“ Das Mädchen blickte ihn abschätzig an. „Doch! Ich habe es gehört.“ Der Bub rief nochmals „nein!“, sah hilfesuchend zum Vater. „Dad, ich habe nicht gefurzt!“
Spätestens hier hätte ich mutig in die Mitte treten und den Unglücklichen aus der schwesterlichen Schusslinie nehmen können. "Nein! Ich wars." Die hätte vielleicht gestaunt! Und wenigstens für den Rest des Tages wäre sie wohl etwas kleinlaut gewesen. Doch ich, naja, ich fühlte mich ein bisschen mutlos. Jedenfalls blieb ich hinter den Hemden stehen. Vielleicht, weil mich der Bub an mein eigenes Schicksal erinnerte. Gestrenge, gnadenlose Schwestern! Niemand auf dieser Welt wusste besser als ich, was man da alles durchmacht. Vor allem, wenn einem noch ab und zu mal ein Furz entweicht.

Die Regel daheim
Wir hatten zu Hause die Regel, dass jeder, der furzte, sofort das Zimmer zu verlassen und auf dem Gang einmal auf und ab zu gehen hatte. Diese Regel galt natürlich nicht für meinen Vater, der sich aber wenigstens Mühe gab und ein Grinsen vermied, wenn ihm ein Ton in falscher Körperhöhe entwich. Meine Mutter sah ihn dann nur prüfend an und hob seufzend die Schultern.
Ich hingegen verbrachte dank dieser Regel praktisch meine gesamte Kindheit auf dem Gang. Meist war es eine der Schwestern, die mich anschwärzten, dann wies die Mutter mit energischem Blick zur Türe. Artig ging ich hinaus und vollzog das Ritual. Die Mädchen hingegen taten das nie. Niemals konnte man sie bei einem Furz ertappen, und meine Mutter schon gar nicht. Das führte zu meinem festen Glauben, dass Frauen nicht furzten. Ein Irrtum, der sich viele Jahre hielt und sich im Laufe meines Lebens nur allmählich, aber umso gründlicher korrigierte.

Sorry, mein Freund!
Daran also dachte ich, als der arme Tropf da stand. Sein Vater sah die Tochter an und sagte: „Nun lass ihn doch in Ruhe!“ Wahrscheinlich leidet er selbst unter gelegentlichen Blähungen. Die Familie ging weiter und bevor ich all meinen Restmut zusammen nehmen konnte, war es zu spät. Nachdenklich sah ihnen hinterher. Es tut mir leid, lieber Freund. Du wirst dich schon irgendwie durchkämpfen. Nur Mut!